31.03.2022

„Die Europäische Union muss unabhängiger werden“

Bundeskanzler Karl Nehammer und GÖD-Vorsitzender Norbert Schnedl zeigen sich solidarisch mit der Ukraine. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine markiert für Kanzler Nehammer einen „historischen Tiefpunkt“.

Das Budget für das Österreichische Bundesheer müsse auf mindestens 1 Prozent des BIP aufgestockt werden, sagt Bundeskanzler Nehammer im Interview mit „GÖD aktuell“. Auf ukrainische Kriegsflüchtlinge sei man vorbereitet, Bund und Länder werden dabei „eng abgestimmt“ vorgehen, hält der Bundeskanzler fest. Österreich habe schon bisher mit Hilfslieferungen und finanziellen Mitteln zur Hilfe vor Ort beigetragen und werde auch weiterhin „so gut es geht helfen, das Leid in der Ukraine zu mindern."

Interview aus dem GÖD-Magazin von März 2022

Herr Bundeskanzler, wie geht es Ihnen persönlich, wenn Sie die Bilder aus der Ukraine sehen? Was bewegt Sie besonders?

Die Tatsache, dass nun mitten in Europa wieder Krieg herrscht, macht uns allen zu schaffen. Nicht zuletzt dank der Europäischen Union konnten wir nach dem 2. Weltkrieg lange Zeit Frieden auf unserem Kontinent halten. Wir alle hätten gehofft, dass wir diesen Frieden auch in Zukunft aufrechterhalten können und kriegerische Auseinandersetzungen mit Panzern, Raketen und Bodentruppen endgültig in die Geschichtsbücher verbannt sind. Am 24. Februar wurden wir mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eines Schlechteren belehrt. Warnzeichen hat es schon früher gegeben, wenn ich zum Beispiel an die 1990er-Jahre denke und den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens. Schon damals waren wir überrascht, dass Auseinandersetzungen in einer solchen Brutalität überhaupt noch geführt werden. Und heute erleben wir wieder diese unselige Verknüpfung von Politik und Gewalt, obwohl wir uns in Europa unisono dazu verpflichtet haben, Konflikte nicht mit Gewalt, sondern am Verhandlungstisch zu lösen. Die Russische Föderation hingegen fährt ihr gesamtes militärisches Potenzial auf. Die Folgen sind dramatisch. Menschen werden verletzt und sterben. Die Zukunft eines ganzen Landes steht auf dem Spiel. Das lässt niemanden kalt, auch mich persönlich nicht. Eine meiner Mitarbeiterinnen im Kabinett stammt aus der Ukraine, ihre Großmutter ist pflegebedürftig und lebt nach wie vor in Kiew, in einer Stadt, die unter permanentem Beschuss steht und aus der sie nicht fliehen kann. Man kann sich kaum vorstellen, wie schrecklich das für alle Betroffenen ist, es ist eine humanitäre Katastrophe.

Was bedeutet die russische Militärinvasion in der Ukraine aus völkerrechtlicher Sicht?

Das Völkerrecht ist das Fundament einer freien und rechtsstaatlichen Demokratie. Es ist die Basis einer zivilisierten Gesellschaft, dass die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gilt. Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat sich der russische Präsident Wladimir Putin aktiv dazu entschieden, das Völkerrecht zu brechen. Weder die Europäische Union noch Österreich sehen dabei tatenlos zu. Im Gegenteil: Wir haben das schärfste Sanktionspaket aller Zeiten geschnürt, das die russische Wirtschaft extrem hart trifft. Putin und seine Gefolgschaft sind international völlig isoliert. Mit dieser Einigkeit der EU-27 hat er nicht gerechnet. Eines zeigt dieser Krieg aber ganz deutlich: Die Europäische Union muss unabhängiger und resilienter werden. Das gilt nicht nur für den Wirtschafts-, sondern auch für den Energiesektor. Es braucht zudem einen massiven Ausbau der gemeinsamen europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür setze ich mich auf europäischer Ebene weiterhin ein.

Und wir bleiben in diesem Prozess neutral?

Die Neutralität Österreichs steht völlig außer Frage. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Kopf in den Sand stecken, wenn in unserer Nachbarschaft ein Land von einem anderen überfallen wird. Wir sind militärisch neutral, aber niemals gleichgültig dem Völkerrecht gegenüber. Europa befindet sich in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es braucht rasche Hilfe, rasche Solidarität für die Menschen in der Ukraine. Es braucht auch Unterstützung für die politisch Verantwortlichen, die dort um ihr Leben fürchten. Was es nicht braucht, sind Diskussionen über Fragen, die sich überhaupt nicht stellen. Österreich war neutral. Österreich ist neutral. Österreich wird neutral bleiben. Österreich hat sich durch seine Neutralität in der Geschichte schon oft als Ort des Dialogs bewährt. Das ist unsere Stärke: das Angebot, als Brückenbauer und Verhandlungspartner aufzutreten, weil wir auch in Europa dafür anerkannt sind, dass wir den Osten und den Südosten Europas besser verstehen als manch andere. Wir stehen auch in diesem Konflikt weiterhin als Verhandlungsort zur Verfügung.

Sind wir für die Flüchtlingsströme ausreichend gerüstet?

Ich denke ja. Es wurden jedenfalls alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, wir sind gut aufgestellt. Wichtig ist hier vor allem, dass die Prozesse zwischen Bund und Ländern gut abgestimmt sind. Dafür habe ich mit Michael Takacs einen Flüchtlingskoordinator eingesetzt, er ist ein erfahrener Mann und wird diese Aufgabe sehr gut erledigen. Bei der Ukraine handelt es sich um einen Nachbarstaat, ein europäisches Land. In der Nachbarschaftshilfe war Österreich in der Geschichte immer wieder vorbildlich – und ist es auch jetzt. Ich bin stolz auf unser Land, wenn ich sehe, was es bei uns für eine Hilfsbereitschaft gibt. Wir stehen hier an der Seite von Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien und werden überall dort helfen, wo wir können.

In einer vernetzten Welt ist die Betroffenheit immer eine globale. Das gilt vor allem auch im Bereich der Energieversorgung. Haben wir uns da zu lange in einer trügerischen Sicherheit gewogen?

Aus heutiger Sicht betrachtet, ja. Allerdings ist das auch nachvollziehbar, denn selbst während des Kalten Krieges haben die Gaslieferungen nie gelitten. Doch jetzt gilt es zu handeln – und das tun wir auch. Die Invasion Russlands in der Ukraine hat da tatsächlich einen Umdenkprozess eingeleitet. Das bedeutet, wir müssen die Energiewende, den Ausbau der erneuerbaren Energien, schneller vorantreiben. Und es wird notwendig, sich bei den Energielieferungen breiter aufzustellen, in diesem Bereich die Diversifizierung zu erhöhen. Beides geht natürlich nicht von heute auf morgen. Derzeit besteht kein Grund zur Sorge, wie mir auch Energieministerin Leonore Gewessler bestätigt. Unsere Energieversorgung ist nicht gefährdet. Die Gaslieferungen aus Russland treffen bislang ohne Einschränkung ein. Und selbst bei einem vollen Stopp der Lieferungen reichen die in Österreich lagernden Gasvorräte deutlich über die Heizperiode hinaus. Doch muss man weitere Vorsorge treffen. Daher sind wir nach Katar gereist, um Flüssiggaslieferungen zu verhandeln. Ziel ist es, die Versorgung langfristig sicherzustellen, denn wir wissen nicht, wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert.

Nach den Sanktionen westlicher Staaten gegen Russland warnen IT-Sicherheitsexperten vor einem Cyberkrieg. Wie schätzen Sie diese Gefahr ein?

Da muss man realistisch bleiben. Auch ohne dieses Kriegsszenario wird, bedingt durch die immer stärkere Vernetzung, die Bedrohung der kritischen Infrastruktur in Österreich durch Cyberattacken unweigerlich weiter zunehmen. Das sagen uns auch alle unsere IT-Expertinnen und -Experten, die eine hervorragende Arbeit leisten, damit wir für den Ernstfall gerüstet sind. Ergänzend bedarf es unbedingt einer intensiven Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und Unternehmen. Als österreichische Bundesregierung legen wir daher einen klaren Schwerpunkt auf die digitale Krisen- und Daseinsvorsorge. Natürlich betrifft das Thema Cybersicherheit auch die Landesverteidigung. Hier werden wir mehr Geld in die Hand nehmen müssen.

Stichwort Landesverteidigung: Welche Lehren können aus der aktuellen Situation für Österreichs Verteidigungspolitik gezogen werden?

Angesichts dieses Krieges müssen wir vieles neu beurteilen und die militärische Landesverteidigung, von der viele geglaubt haben, dass wir sie nicht mehr brauchen, in Gleichklang mit der zivilen, wirtschaftlichen und geistigen Landesverteidigung bringen. Österreichs Soldatinnen und Soldaten sind bestens ausgebildet. Viele Beobachter haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder behauptet, konventionelle Kriegsführung gehöre der Vergangenheit an. Sie lagen aber falsch. Die Geschichte lehrt uns gerade, dass wir – um als neutraler Staat nachhaltigen, militärischen Widerstand leisten zu können – eine zeitgemäße Ausrüstung auch an schweren Waffen benötigen. Die Ukrainekrise hat uns deutlich vor Augen geführt, dass es beim Verteidigungsbudget vieles aufzuholen gibt. Das permanente Zurückfahren der Sicherheitsausgaben in Europa muss ein Ende haben, darüber muss ideologiefrei diskutiert werden. Für Österreich bedeutet das konkret eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mindestens ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen des Öffentlichen Dienstes für ihren großartigen Einsatz zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen. Ich bin froh und stolz, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes dabei als starke Partner an der Seite der Regierung zu wissen.

Abseits von IT-Sicherheit und Landesverteidigung, welche Bedeutung kommt dem Öffentlichen Dienst bei der Bewältigung der Auswirkungen des Krieges in der Ukraine zu?

In Krisenzeiten ist ein funktionierender Öffentlicher Dienst unabdingbar. Er ist das Rückgrat unserer Verwaltung und hält unser Land am Laufen. Bereits die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass wir uns in Österreich in allen Bereichen auf den Öffentlichen Dienst verlassen können. Nun geht es um den Schutz für die von Krieg Bedrohten. Dabei werden wir in der Praxis vor allem Frauen und Kinder unterstützen etwa durch Unterbringung, Schulausbildung und psychologische Hilfe. Aber auch in allen anderen Bereichen des Öffentlichen Dienstes kommen enorme Aufgaben auf uns zu, etwa am Arbeitsmarkt, der inneren Sicherheit oder der Gesundheitsversorgung. An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen des Öffentlichen Dienstes für ihren großartigen Einsatz zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen. Ich bin froh und stolz, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes dabei als starke Partner an der Seite der Regierung zu wissen.

Sie haben Ihre verantwortungsvolle Position in einer Pandemie übernommen, jetzt gibt es mitten in Europa Krieg. Wie gehen Sie damit um?

Als ich dieses Amt im Dezember letzten Jahres übernehmen durfte, war mir bewusst, dass es keine leichte Aufgabe sein wird. Den 24. Februar 2022 werde ich aber nie vergessen, denn er markiert einen traurigen, historischen Tiefpunkt. Zehn Minuten nach fünf Uhr hat mein Handy geläutet. Ich wurde darüber informiert, dass die Invasion Russlands in der Ukraine begonnen hat. Und obwohl wir alarmiert und grundsätzlich auch darauf vorbereitet waren, war es trotz allem eine surreale Situation. Die schlagartige Entwicklung zeigt auch, wie fragil Frieden sein kann. Nach jedem Telefonat, das ich mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj oder dem Kiewer Bürgermeister Klitschko führe, bin ich einfach nur froh, dass wir in Österreich in Frieden leben. Dass meine Kinder ruhig schlafen können und ich keine Angst davor haben muss, dass gleich irgendwo eine Granate einschlägt. Das ist schon ein außergewöhnliches Privileg. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende dafür tun, dass es so bleibt. Gleichzeitig werden wir als Bundesregierung so gut es geht helfen, das Leid in der Ukraine zu mindern. Wir haben bereits 17,5 Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds für humanitäre Hilfe vor Ort bereitgestellt und werden zusätzlich alle privaten Spenden, die bei der ORF-Hilfsaktion „Nachbar in Not“ eingehen, verdoppeln. Zudem sind 10.000 Schutzhelme, Schutzwesten sowie fast 200.000 Liter Treibstoff für zivile Einsatzkräfte auf dem Weg bzw. bereits vor Ort in den Krisengebieten. Weitere Hilfslieferungen sind bereits in Vorbereitung!